MÜLLER UND MÜLLER / LEGENDEN VOM ICH

Schatten der Vergangenheit liegen auf der Zukunft /

Alpträume irrlichtern

Dies sind Zeiten der Angst.

Angst der Frauen vor der Gewalt der Männer und Angst der Männer vor den Frauen ohne Angst.

Angst vor Dieben, Angst vor der Polizei.

Angst vor der Tür ohne Schloss, vor der Zeit ohne Uhr, dem Kind ohne Fernsehgerät, Angst vor der Nacht ohne Schlaftabletten und vor dem Tag ohne Wachmacher.

Angst vor der Menge, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor dem, was war, und dem, was werden mag, Angst vor dem Sterben, Angst vor dem Leben. 

Eduardo Galeano

 

Gestern wie heute - und wie heute, so vermutlich auch morgen!

Seit sich menschliche Wesen auf dem Boden dieses Planeten Erde herumtreiben, die unendliche Reihe. Das Unbekannte ist für die Menschen nur in der Perspektive des Bekannten erträglich. Offenbar ist die mannigfaltige Wahrheit des Lebens nur erkennbar durch eine ausgedehnte Sammlung von Etiketten, Präparaten, Modellen, Sammelbegriffen in Hülsen und Flaschen und Behältern...

In einer solchen Ordnung wird das Dasein Gespenst. Leben ist bei den Menschen nicht da, um gelebt zu werden - vielmehr um gebucht, verwaltet und betreut zu werden.

 

Treten Sie ein in die Schule der Welt, diesmal auf den Kopf gestellt!

Die Laterna Magica soll leuchten!

"Die Reize des Entdeckens nehmen kein Ende." (Berliner Zeitung)

Regie/Bühne: K. Erforth; Dramaturgie: Christine Boyde; Kostüme/Masken: K. Janewa

Dauer: 120 Minuten

 

 

      Fotos: Jörg Metzner

 

 

 

Berliner Zeitung  Archiv » 2009 » 24. November » Feuilleton 

Textarchiv

Opfer und Mörder als Schatten

Das Theater RambaZamba zeigt "Müller und Müller"

Doris Meierhenrich

Die Unumkehrbarkeit der Zeit"heißt es plötzlich mitten in der Beschreibung einer toten Frau in der Küche. Als Heiner Müller 1975 die "Todesanzeige" schrieb, war das auch der Versuch, den Albtraum der Selbsttötung seiner Frau Inge loszuwerden. Doch schnell ist er überzeugt: Die Toten sterben nie. Quälende Verfolger bleiben sie, wichtige Wegweiser werden sie. Der nichtblinde Blick in die Gegenwart ist immer einer durch die Schatten der Vergangenheit.

Auf der kleinen Bühne des Theaters RambaZamba robbt sich in einem schwarz-roten Ganzkörperanzug, der Schauspieler Sven Normann, dessen verwachsene Beine wie Seile an seinem Rumpf hängen, über einen anderen. Auch jener ist eingepackt wie eine Larve und stellt für Normann nicht nur die Tote dar, über die er schwer atmend und rau Müllers "Todesanzeige" spricht. Der Leblose erscheint auch wie ein zerschellter Grenzposten, über dem die vergehenden, nie vergehenden Zeiten zusammenschlagen. Und während man den verzweifelten Sven Normann sich immer wieder über diesen Grenzkörper ziehen sieht, hin und zurück, kraftvoll sprechend, wird er, der den Kampf mit dem Doppelspiel der Zeit aufnimmt, zum eindringlichsten Bild aller Gedächtnisarbeit selbst.

Der famose Normann spielt Heiner Müller oder richtiger, eine Müller-Maske, denn um die Person geht es nicht, sondern um seine Texte, die Formen des Ausgestoßenwerdens beschreiben und wiederkehrende Zerrbilder der Geschichte, die dann zum Albtraum werden, wenn nicht erinnert wird. Und diese Müller-Maske bildet eine der Grenzfiguren der tragikomischen Szenen-Collage "Müller und Müller", die Regisseur Klaus Erforth aus vielen Texten komponiert hat, von Boris Pilnjak bis Werner Krauss. Vor allem Müller aber leiht diesem grotesken Ritt durch die Geschichte seinen aufbrechenden Blick. Der andere Müller heißt Helmut und ist ein RambaZamba-Schauspieler mit Down-Syndrom, der bei seiner Geburt 1941 nur durch List der Euthanasie-Giftspritze entkam.

Den ganzen Krieg über hält die Mutter ihr verbotenes Kind versteckt. Und so sieht man den 68-Jährigen noch einmal in einen Kartonwagen gezwängt an Schweinsmasken-Garden vorbei sich ins Leben stehlen. Die Schweinsmasken werden als Wächter der braunen wie roten wie zukünftig posthumanen Systeme ständig auf der Bühne bleiben, welche mit schmalen Pappwänden strukturiert den Raum in ein Zeitbild verwandelt. Und immer wieder schleicht sich ein Chor von Schattenmenschen über die Szene, Opfer und Mörder.

Nicht alles wird verständlich an diesem vielgestaltigen Bildertheater. In den besten Momenten aber, kann man den Schauspielern so direkt bei der Entstehung ihres Spielens zusehen, wie sonst nirgends. Das ist kein Voyeurismus, sondern Teil eines durch viele Masken sich selbst zeigenden Theaters. Die unbezwingbare Natur dieser Spieler aber zeigt ihre Gestensuche nicht selbst wieder perfekt gespielt, wie Professionelle das tun, sondern ungekünstelt. Jeder Auftritt ist ein echter Neuanfang. Die Reize des Entdeckens nehmen kein Ende.

 

 

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